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Sonntag, 15. April 2012

Begräbnis

Heute ist der Tag meiner Beisetzung. Gestern bin ich gestorben.
Es war ein natürlicher Tod, ich war alt und grau geworden.
Ich konnte nicht mehr weiterleben, ich hatte keine Kraft mehr.
Sie war aufgebraucht.

Heute ist Donnerstag, der 23. Oktober.
Es ist ein schöner Herbsttag, das rötlich-gefärbte Laub weht durch
die Luft und die Trauergäste in ihren schwarzen Kleidern sind
ausnahmslos erschienen.

Viele haben sich von ihrer Arbeit freistellen lassen, um mich zu verabschieden.
Einige weinen um mich. Ich sehe sie deutlich vor mir, gehe sogar nah an sie heran,
so nah, dass ich ihre Wangen berühren könnte, wenn ich denn wollte.

Doch sie können mich weder sehen noch meine Anwesenheit spüren,
das wird mir schnell klar. Auch bin ich kein Geist oder dergleichen, ich kann weder fliegen
oder durch Bäume oder Menschen hindurchgleiten.

Ich bin einfach da und gleichzeitig auch nicht.
Schwer zu begreifen, mit einem begrenzten Menschenverstand, doch leicht
zu verstehen in meiner Welt, die wiederum keine ist.
Die Abwesenheit von Leben ist nichts als Stille ohne Freude, Angst, Trauer und Glück.

All das sind irdische Dinge, die hier nicht existieren, weil ich sie hier nicht brauche.
Das einzige, was bleibt, ist Liebe.
Die Essenz aller Dinge. Sie schwebt, nein, Sie thront über allem.
Sie steht am Ende aller Wege.

Die Trauerrede wird gehalten. Ich höre zu und muss lächeln.
Es wird nur gut über mich gesprochen und all meine Fehler
und schlechten Eigenschaften werden ausgespart, als hätte es sie nie gegeben.
Ein halber Mensch, ein halbes Leben. Nicht vollständig.

Ich gehe durch die Reihen der anderen Grabsteine und lese die Inschriften.
Mir wird klar, es sind meine letzten Minuten auf diesem Friedhof.
Schon bald, wenn der letzte Gast gegangen, wenn die letzte Träne getrocknet,
werde auch ich für immer verschwunden sein.

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